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Beitrag vom 01.03.2017
Certain Women - Regie Kelly Reichardt. Ausgezeichnet mit dem EDA Female Focus Award für das beste weibliche Drehbuch der Alliance of Women Film Journalists. Kinostart 02. März 2017
Hannah Hanemann
Die Regisseurin ("Wendy und Lucy", "Night Moves") stellt erneut ihr Talent für sensible (weibliche) Portraits und minimalistische Inszenierungen unter Beweis. Laura Dern, Michelle Williams, Kristen Steward und Lily Gladstone verkörpern einfühlsam Figuren aus Kurzgeschichten von Maile Meloy, auf denen der Film basiert.
Kelly Reichhardt gilt als eine der wichtigsten unabhängigen Regisseurinnen des zeitgenössischen amerikanischen Kinos. Identitätssuche, weibliche Selbstbestimmung und der ländliche Westen der USA sind wiederkehrende Motive ihrer Filme. So auch in "Certain Women": In der tristen Kleinstadteinöde Montanas bewältigen vier Frauen ihren Alltag. In drei unterschiedlich langen Sequenzen werden sie vorgestellt, wobei ihre Biographien, Lebensverhältnisse, Probleme und Wünsche jeweils nur angedeutet werden. Allen drei Geschichten sind lange Landschaftseinstellungen, eindrückliche Close Ups und ein Arrangement gedeckter Farben gemein. So stehen die Frauen umso mehr im Fokus, der Blick der Betrachterin wird auf ihr Verhalten und ihre Gefühle gelenkt und immer sind sie es, die die Leinwand dominieren.
Das Drehbuch, das ebenfalls Reichhardt geschrieben hat, basiert auf drei Kurzgeschichten der aus Montana stammenden Schriftstellerin Maile Meloy, deren Kurzgeschichtensammlung "Both Ways Is the Only Way I Want It" im Jahr 2009 sowohl von der "New York Times Book Review" als auch von der "Los Angeles Times" zu einem der zehn besten Bücher des Jahres gekürt wurde.
Stille Melancholie
Der Film beginnt mit der Geschichte der Anwältin Laura (Laura Dern), die allein lebt und eine Affäre mit dem verheirateten Ryan (James LeGros) hat. Sie ist frustriert von der Arbeit mit einem aufdringlichen und respektlosen Klienten, für den sie andererseits aber auch Mitleid empfindet. Als dieser schließlich zu drastischen Mitteln greift um seine Ansprüche einzufordern, liegt es in Lauras Verantwortung, die Situation zu deeskalieren.
Reichardts ruhiger Erzählstil wird hier besonders deutlich, da sie aufwühlende Ereignisse so undramatisch wie möglich inszeniert, Action und Pathos durch Close-Ups und eine ruhige Kameraführung ersetzt. Auch Musik wird im Film sparsam eingesetzt, stattdessen kreieren Hintergrundgeräusche wie das Rauschen des Windes oder laufende Motoren eine greifbar eindrückliche Atmosphäre.
Von Laura schwenkt die Kamera zu einem anderen Ort, an einem anderen Tag, zu einer anderen Frau. Gina (Michelle Williams), die kühle und ambivalente Protagonistin der zweiten Geschichte, ist mit ihrem Ehemann Ryan, (ebenjenem Ryan, den die Zuschauerin als Lauras Liebhaber wiedererkennt) und ihrer Tochter Guthrie (Sara Rodier) auf einem Campingausflug. Ohne viele Worte, aber in beklemmend unangenehmen, schweigsamen Einstellungen wird ihr distanziertes Verhältnis zu Ehemann und Tochter thematisiert, von denen sie sich ausgeschlossen und zurückgewiesen fühlt.
Sowohl Lauras als auch Ginas Darstellungen vermitteln eine stille Melancholie, die angesprochen, nie ausgesprochen wird und die Zuschauerin in ihren Bann zieht.
Der Regisseurin gelingt es zusammen mit den hervorragenden Schauspielerinnen, mehrdimensionale Frauenfiguren zu portraitieren, die sich nicht in stereotype Schubladen stecken lassen. Hierbleibt jedoch vor allem Ginas Charakter etwas blass. Der Zuschauerin wird zwar ein kurzer Einblick in ihr Leben gewährt - doch bevor sich wirkliche Emotionalität aufbauen kann, schließt sich die Tür zu Ginas Welt auch schon wieder.
Entwaffnende Verletzlichkeit
Für die dritte Geschichte hat die Filmemacherin sich mehr Zeit genommen, sie macht in etwa die Hälfte des Films aus. Und das ist gut so, denn sie ist bei weitem die berührendste. Zu großen Teilen ist das der Darstellung Lily Gladstones zu verdanken, die mit entwaffnender Naivitäteine namenlose Rancherin in der ländlichen Einöde Montanas verkörpert, die sich in die junge Anwältin Beth (Kristen Stewart) verliebt. Durch Zufall landet sie in einem Abendkurs, in dem Beth, die für ihren Job immer mehrere Stunden mit dem Auto aus der Stadt anreisen muss, Schulrecht lehrt. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich eine flüchtige Bekanntschaft, die für die Rancherin jedoch von großer emotionaler Bedeutung ist. Als Beth eines Tages nicht mehr zum Unterricht kommt, macht sie sich auf den Weg in die Stadt, um sie zu suchen.
Im Gegensatz zu den kürzeren, vorhergehenden Geschichten lässt Reichardt dieserreichlich Zeit, sich zu entfalten. Die Idylle der Pferdranch, auf der die Rancherin ihrer täglichen Routine nachgeht, die langsame Annährung an die junge Juristin bei wiederholtenAbendessen,eingemeinsamerRitt von der Schule zum Dinner - all diese behutsam inszenierten Momentetragen dazu bei, die Entwicklung der Gefühle der Protagonistinnen glaubhaft zu machen.
Die finale Fahrt der Rancherin in die Stadt, ihre bewegende Suche nach der von ihr verehrten jungen Frau, ihre hoffnungsvolle, stille Zuneigung und Verletzlichkeit brechen der Zuschauerin schließlich schier das Herz.
"Certain Women" lebt von dieser Gegenüberstellung großer Gefühle und kleiner Momente, dem einfühlsamen Herantasten an den Schmerz und die Freuden der Protogonistinnen, die sich nicht in dramatischen Gesten, sondern scheinbar banalen Details äußern.
AVIVA-Tipp: "Certain Women" erfordert ein Sich-Einlassen der Zuschauerin auf seine langsame Erzählweise und karge Inszenierung. Dann überzeugt der Film jedoch sowohl durch seine inhaltlichen Komponenten, als durch seine visuelle und atmosphärische Kraft.
Zur Regisseurin: Kelly Reichardt wurde 1964 in Miami, Florida geboren. Sie studierte an der "School of the Museum of Fine Arts" in Boston. 1994 veröffentlichte sie ihren Debüt-Spielfilm "River of Grass", der für drei "Independent Spirit Awards" nominiert war, sowie für den Grand Jury Prize des "Sundance Film Festivals". 2006 erschien mit "Old Joy" ihr zweiter Spielfilm, der seine Premiere beim "Sundance Film Festival" hatte. Er gewann als erster amerikanischer Film den "Tiger Award" beim "Rotterdam Film Festival". Für "Wendy und Lucy" (2008), in dem sie das erste Mal mit Michelle Williams zusammen arbeitete, war sie erneut für zwei Independent Spirit Awards nominiert. In ihrem Western "Auf dem Weg nach Oregon" (2010) arbeitete die Regisseurin erneut mit Michelle Williams zusammen. 2013 kam ihr vierter Spielfilm "Night Moves" in die Kinos und 2016 "Certain Women", der zwölf Preise und vierundvierzig Nominierungen für Film, Drehbuch und Schauspielerinnen einheimsen konnte, darunter den Preis für den Besten Film auf dem "London Film Festival", den achten Platz der zehn besten Filme des Jahres der "Boston Online Film Critics Association" und den "EDA Female Focus Award" für das beste weibliche Drehbuch der "Alliance of Women Film Journalists".
Neben ihrer Filmkarriere unterrichtet Kelly Reichardt das Fach Film am Bard College, New York.
Mehr Infos zu Kelly Reichardt auf IMDb:
www.imdb.com
Zu den Schauspielerinnen:
Michelle Williams wurde am 9. September 1980 in Kalispell, Montana geboren. Bekannt wurde sie durch ihre Rolle der Jen Lindley in der Serie "Dawson´s Creek", sowie durch Filme wie "Brokeback Mountain"(2005), "Shutter Island" (2010) und "Myweekwith Marilyn"(2011.) Sie hat bisher für drei Filme mit Kelly Reichardt zusammen gearbeitet: "Wendy und Lucy", "Auf dem Weg nach Oregon" und "Certain Women." Michelle Williams wurde mehrfach für den Oscar nominiert.
Laura Dern wurde am 10. Februar 1967 in Los Angeles, Kalifornien geboren. Bekanntheit erlangte sie vor allem durch die Zusammenarbeit mit David Lynch, in dessen Kritiker- und Publikumserfolgen "Blue Velvet" (1986), "Wild at Heart – Die Geschichte von Sailor und Lula (1990)" und "Inland Empire" (2006).Für ihre Rolle in "Die Lust der schönen Rose" war sie 1992 für den Oscar nominiert. Im November 2010 wurde Laura Dern auf dem Hollywood Walk of Fame mit einem Stern in der Kategorie Film geehrt. 2017 war sie für "Certain Women" für den "COFCA Award" der "Central Ohio Film Critics Association" als beste Nebendarstellerin nominiert.
Kristen Stewart, am 9. April 1990 in Los Angeles, Kalifornien geboren, erlangte vor allem durch ihre Rolle in der "Twilight-Saga" (2008-2012) größere Bekanntheit. 2010 erhielt sie für ihre Darstellung "Welcome To The Rileys" positive Kritiken und hat seitdem anspruchsvollere Rollen angenommen, etwa in "Still Alice – Mein Leben ohne Gestern" (2014) und Woody Allens "Café Society" (2016). Für "Certain Women" war sie beim " Village Voice Film Poll" als beste Nebendarstellerin nominiert.
Lily Gladstone wurde 1986 in Montana geboren. Sie studierte Schauspiel an der "University of Montana". In "Certain Women" spielte sie erste große Rolle, für die sie u.a. 2016 mit dem "Los Angeles Film Critics Association Award", dem "Boston Society of Film Critics Award" und dem "Atlanta Film Critics Society Awards" als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet wurde. Sie erhielt außerdem diverse weitere Nominierungen, u.a. bei den "Gotham Awards" und den "Women Film Critics Circle Awards".
Certain Women
Spielfilm, USA 2016
Regie: Kelly Reichardt
Drehbuch: Kelly Reichardt, basiert auf Geschichten von Maile Meloy
Kamera: Christopher Blauvelt
Schnitt: Kelly Reichardt,
DarstellerInnen: Michelle Williams, Kristen Stewart, Laura Dern, Lily Gladstone
Verleih: Peripher
Lauflänge: 107 Minuten
Kinostart: 02.03.2017
fsk-kino.peripherfilm.de
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